In Zeiten von Hashtags, TikTok-Trends und spontanen Aufregern scheint ein Wort ganz besonders en vogue zu sein: Nazi. Wer sich heute durchs Internet scrollt oder den öffentlichen Debatten folgt, bekommt schnell den Eindruck, dass dieser Begriff ein echtes Allheilmittel der Polemik ist. Ein praktisches, kleines Label, das man jedem anheften kann, mit dem man gerade nicht einverstanden ist. Das Tolle daran: Man muss sich weder differenziert mit den Ansichten des Gegenübers befassen, noch braucht man historische Fakten. Ein simples “Nazi!” ins Mikro gerufen, in die Tastatur getippt oder auf irgendein Plakat gepinselt – und schwupp, der Feind ist markiert.
Geht es dabei nur um politische Extreme? Schön wär’s. Inzwischen wird Nazi längst nicht mehr nur für stramm rechts außen auftretende Personen verwendet, sondern – je nach Stimmungslage – für jede und jeden, der sich erdreistet, eine abweichende Meinung zu haben. Du findest Corona-Maßnahmen überzogen oder stellst unbequeme Fragen? Zack: Nazi!. Du hinterfragst die These des menschengemachten Klimawandels oder findest die Massenmigration nicht immer nur super? Nazi! Du trägst beim falschen Festival einen falschen Haarschnitt, und irgendjemandem passt das nicht? Höchste Alarmstufe: Nazi!
Der Effekt ist bestechend einfach: Wer so beschimpft wird, fühlt sich diffamiert, schießt möglicherweise beleidigt zurück, und schon kann man die Diskussion getrost beenden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Müßig, sich noch über sachliche Argumente oder Belege zu unterhalten. Nazi – das sitzt! Einmal angebracht, klebt das Label wie Sekundenkleber und wirkt bei den Empfängern wie ein Signalfeuer: “Finger weg von dem oder der, ist ein Nazi!” Und das, obwohl die wenigsten von uns vermutlich eine präzise Vorstellung davon haben, was dieses Wort eigentlich historisch bedeutet.
Apropos Historie: Irgendwann, so raunt es in manchem Klassenzimmer oder auch Universitätsseminar, gab es da mal ein Regime in Deutschland, das tatsächlich unvorstellbare Gräueltaten begangen hat – genauer gesagt, den Holocaust. Das war eine Zeit, in der Millionen Menschen auf unmenschlichste Weise verfolgt, misshandelt und ermordet wurden. Eine Epoche, in der es – anders als heute – eben nicht bloß um beleidigende Schlagworte ging, sondern um echte Lager, echte Gewalt, echte staatlich organisierte Vernichtung. Doch im Angesicht dessen, wie inflationär der Begriff “Nazi” heute aus allen Ecken gezaubert wird, könnte man fast glauben, es ginge nur um eine leicht boshafte Beleidigung, eine Art Allzweckwaffe im politischen Kleinkrieg.
Und genau hier liegt das Problem: Was passiert, wenn wir ein Wort, das historisch so belegt ist wie kaum ein zweites, ständig abwerten, trivialisieren und als verbales Gummigeschoss verschießen? Es verliert seine Wucht, seine Bedeutung – und letztlich auch seine Geschichte. Wenn alles und jeder “Nazi” ist, dann ist es irgendwann niemand mehr. Das Resultat: Ein immer schwächeres Bewusstsein für die realen Verbrechen, die hinter diesem Begriff lauern, und eine immer geringere Bereitschaft junger Menschen, sich damit auseinanderzusetzen.
Denn warum sollte man sich noch die Mühe machen, Originalquellen zu lesen, Dokumentationen zu schauen oder die Biografien ehemaliger KZ-Häftlinge zu studieren, wenn man ohnehin den Eindruck bekommt, dass “Nazi” eh nur ein Schimpfwort ist, das dem Gegner in die Fresse geknallt wird, wenn einem seine Position nicht passt? Das Ganze läuft auf einen bequemen Nebeneffekt hinaus: Wer brav auf der vermeintlich “richtigen” Seite steht, muss sich um historische Details, Täter-Profile oder die genaue Opferzahl des Holocaust gar nicht mehr kümmern. Man ist ja selbst definitiv kein Nazi und fühlt sich moralisch erhaben, während der Dagegenredner der dämonisierte, stigmatisierte Bösewicht ist.
So wächst eine Generation heran, die den Begriff ‘Nazi’ allenfalls aus markigen Instagram-Posts oder abfälligen Tweets kennt, während die eigentlichen Verbrechen, die unfassbare Menschenverachtung und die grausame Systematik der nationalsozialistischen Herrschaft allmählich aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Am Ende sitzt dann ein Jugendlicher vor dem Smartphone und fragt sich: “Nazi? War das nicht so ein Spinner, der gegen Bäume protestiert hat?” – oder: “Hab ich da nicht mal ein Meme mit gesehen?” Und wir wundern uns über die Ergebnisse von Umfragen, nach denen ein großer Teil der heutigen Schüler nicht einmal die Namen der KZs auseinanderhalten kann.
Ja, es mag bequem sein, ein Wort zu kapern und es zum Totschlagargument zu machen. Das erspart stundenlange Diskussionen und die unangenehme Konfrontation mit anderen Sichtweisen. Aber spätestens, wenn das Wörtchen Nazi derart verbraucht ist, dass sich niemand mehr an seine wahre, grausige Bedeutung erinnert, haben wir uns selbst einer wertvollen historischen Warnung beraubt. Dann sitzen wir auf unserem vermeintlich moralischen Thron, winken mit dem Nazi-Wimpel und meinen, wir hätten die Welt gerettet – während wir in Wahrheit nur das Fundament für die nächste Generation an Geschichtsvergessenen legen.
Es wäre doch zu schön, wenn wir uns wieder daran erinnern würden, dass nicht jede Meinungsverschiedenheit gleich ein Fall für das größte aller Schmähwörter ist. Sicher, wir leben in aufgeregten Zeiten; die sozialen Medien brüllen lauter als jede Marktschreierei. Aber vielleicht ist es an der Zeit, Wörter wie “Nazi” wieder dorthin zu verbannen, wo sie hingehören: in den historisch fundierten Kontext. Dann hätte man auch mehr Muße, sich stattdessen wirklich mit Ideen auseinanderzusetzen, aufzuklären, zu diskutieren. Und wer weiß – vielleicht trüge das ja sogar dazu bei, dass mehr Leute kapieren, warum der Holocaust nicht bloß eine “hässliche Episode” war, sondern eine Menschheitskatastrophe, deren Tragweite bis heute reicht.
Doch was weiß ich schon. Ich bin vermutlich auch nur wieder so ein Nazi, weil ich finde, dass wir mit unserer eigenen Geschichte ein bisschen sorgsamer umgehen sollten. Man möge mir verzeihen. (cg)